Inszenierte Loyalitäten

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Allgemeines und Biographisches

Im Mai 2020 ist das Buch Inszenierte Loyalitäten? – Die Neuapostolische Kirche in der NS-Zeit im Verlag Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften erschienen.

Autor ist der am 30. August 1955 in Bempflingen (Württemberg) geborene Dr. Karl-Peter Krauss. Krauss hat Geschichte, Geographie und Germanistik mit dem Schwerpunkt Ostmitteleuropa sowie Landesgeschichte an der Universität Tübingen studiert.

Er ist am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde tätig, einer dem Innenministerium des Landes Baden-Württemberg angegliederten Forschungseinrichtung.

Seine zahlreichen Publikationen (Monographien, Herausgeberschaften, Aufsätze, Rezensionen) weisen ihn als profilierten und renommierten Historiker aus.

Bereits 2017 hat Krauss das Buch Die Mitgliederentwicklung der Neuapostolischen Kirche in der NS-Zeit: Decodierung einer Meistererzählung? publiziert.


Zusammenfassung des Buchinhalts

„Die Geschichte der Neuapostolischen Kirche in der NS-Zeit wird anhand bisher unerforschter Quellen aus vielen Archiven neu geschrieben.

Die quellenkritische Analyse führte schließlich zu der Fragestellung und Analysekategorie der «inszenierten Loyalitäten». Ein besonderer Fokus liegt auf den Akteuren und deren Handlungspraxis.

So wird die formale und materiale NS-Belastung von Funktionsträgern beleuchtet, die überwachte Korrespondenz mit jener verglichen, die unter Umgehung der Zensur geführt wurde, die Zeitschrift «Unsere Familie» einer kritischen Betrachtung unterzogen.

Ein Schwerpunkt liegt auf den Einzelschicksalen neuapostolischer Christen jüdischer Herkunft sowie dem Umgang der Kirche mit ihnen. Damit liegt eine Grundlagenforschung zu vielen Themenbereichen aus einem dunklen Kapitel deutscher Geschichte vor.“ (Klappentext)


Inhaltliche Gliederung

Die inhaltliche Gliederung geht aus den Kapitelüberschriften hervor:

1. Der Urgroßvater, die Geschichtswissenschaft und ein Politikwissenschaftler: Einführung

2. Panik: Das Jahr 1933

3. Die Mitgliederentwicklung und ihre Instrumentalisierung

4. Die NS-Belastung führender Funktionsträger in Württemberg und Bremen

5. Kirchenleitung und NS-Belastung

6. Der Akteur Friedrich Bischoff

7. Widerspenstigkeiten: Der Gemeindeleiter und der Oberbürgermeister

8. Die Zeitschrift „Unsere Familie“ und die Historische Demoskopie: Heiratsannoncen

9. Die Korrespondenz mit Heinrich Franz Schlaphoff (Südafrika)

10. Vom Altar nach Auschwitz: Neuapostolische Christen jüdischer Herkunft

11. „Der Geist aus der Flasche“: Phantomschmerzen und Rechtfertigungsstrategien

12. Aus Kommunisten werden Nationalsozialisten: Fremdzuschreibungen?

13. Deutungen und Ausblick

13. Anhang


Vorwurf der Apologie

Karl-Peter Krauss ist Mitglied der Neuapostolischen Kirche und Vorsteher der Gemeinde Reutlingen-Gönninge (2021). Aktuell ist er außerdem Leiter der Arbeitsgruppe Geschichte der Neuapostolischen Kirche.

Dass seine Bezüge zur Neuapostolischen Kirche die Rezeption seiner wissenschaftlichen Arbeit erschweren könnte, scheint Krauss geahnt zu haben:

„Der hier vorgenommenen Neubewertung der Geschichte der Neuapostolischen Kirche liegen keine apologetischen Motive zugrunde.“ (S. 378)

Die in den letzten Jahren veröffentlichten Bücher, Aufsätze und Vortrage von Krauss zur Geschichte der Neuapostolischen Kirche hängen allerdings mit seiner kirchlichen Beauftragung als Leiter der AG Geschichte der NAK zusammen. Dieser Tatbestand kommt in seinem Buch nicht zur Sprache.

Die Inszenierten Loyalitäten wurden nicht im kircheneigenen Friedrich Bischoff Verlag herausgegeben, sondern in einem renommierten Wissenschaftsverlag. Zuvor war diese Publikation wissenschaftlich begutachtet worden (S.4). Krauss schreibt hier also nicht als Leiter der Arbeitsgruppe Geschichte der Neuapostolischen Kirche.

Der Vorwurf, in apologetischer Absicht zu schreiben, ist abwegig, denn Krauss achtet in seinem Buch Inszenierte Loyalitäten? Die Neuapostolische Kirche in der NS-Zeit sehr genau darauf, seine angewendeten historischen Methoden differenziert und transparent darzulegen. Seine methodisch akribische Darstellung und die detaillierten Quellenangaben setzen damit Maßstäbe für weitere Arbeiten zum Thema Neuapostolische Kirche und Nationalsozialismus.


Krauss´ Bewertung bisheriger Publikationen

Krauss sieht das bedeutendste Defizit der bisherigen Fachliteratur über die Neuapostolische Kirche im Nationalsozialismus in der „weitgehend versäumten Grundlagenforschung durch eine systematische Recherche, Auswertung und Analyse von Quellen jenseits der leicht zugänglichen Akten aus den einschlägigen NS-Provenienzen“. (S. 21)

Vor allem bemängelt Krauss die einseitige Interpretation solcher Dokumente in den bisherigen Publikationen (Christine Elizabeth King, Michael König/ Jürgen Marshall, Klaus Schabronat) und deren unkritische Übernahme durch weitere Autoren (Helmut Obst, Andreas Fincke, Sebastian Dieterich, Dominik Schmolz), ja der Neuapostolischen Kirche selbst. (S. 20-23)

„Gerade die Interpretation von Dokumenten in Diktaturen und insbesondere deren Geheimdienste setzen ein intensives quellenkritisches Vorgehen voraus. Sonst wird die Sichtweise des Unterdrückungsapparates unkritisch übernommen. […] Es empfiehlt sich daher, den Kronzeugencharakter [...] der im NS-Staat entstandenen Akten zumindest zu hinterfragen.“ (S. 18f)

Weapons of the Weak

Haben „die Schwachen“ in totalitären Systemen Handlungsoptionen? Der amerikanische Professor für Politologie und Anthropologie James C. Scott bejaht dies und identifiziert solche „Waffen der Schwachen“. Dazu zählt er z.B. die Verstellung oder Heuchelei, das scheinbare Nichtwissen und die kalkulierte Konformität. (S. 16)

Krauss erkennt in diesem Ansatz eine neue und angemessene Möglichkeit, die Dokumente zum Thema Neuapostolische Kirche in der NS-Zeit (neu) zu deuten. Dieser Ansatz liegt seiner Interpretation zahlreicher Dokumente zugrunde.


Der 10. Glaubensartikel

Der frühere 10. Glaubensartikel der Neuapostolischen Kirche (Ich glaube, dass die Obrigkeit Gottes Dienerin ist uns zugute, und wer der Obrigkeit widerstrebt, der widerstrebt Gottes Ordnung, weil sie von Gott verordnet ist.) wurde unter Stammapostel Niehaus während der Weimarer Republik (1918-1933) abgeschafft und 1930 wiedereingeführt.

Die Wiedereinführung des 10. Glaubensartikels wurde in der Fachliteratur immer wieder als entscheidendes Zeichen der besonderen Nähe zwischen Neuapostolischer Kirche und dem NS-Regime interpretiert.

Dieses zentrale Argument der Fachliteratur setzt Krauss folgende Überlegung entgegen:

„Es ist kaum anzunehmen, dass 1930 und damit drei Jahre vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten von einer solchen ausgegangen werden konnte. […] die Entscheidung für die Aufnahme des Glaubensartikels steht wohl eher in Zusammenhang mit der krankheitsbedingten Versetzung des damaligen Kirchenleiters Hermann Niehaus in den Ruhestand am 21. September 1930. … Insofern ist die erneute Aufnahme dieses Glaubensartikels im Jahre 1930 eher als Akzeptanz der Verfassung der Weimarer Republik zu werten.“ (S. 23)


„Histoire totale?“ – Forschungsstand

Krauss selbst beurteilt sein Buch zur Geschichte der Neuapostolischen Kirche im Nationalsozialismus und somit den Forschungsstand (2020) so:

„Das vorliegende Buch ist keine „histoire totale“, eine Geschichte, die eine Gesamtschau der historischen Prozesse, ein Handbuch der Geschichte der Neuapostolischen Kirche in der NS-Zeit bietet. Dafür ist der Forschungsstand zu fragil, zu schmal und zu wenig quellenbasiert. Besonders aber fehlt die angesprochene, auf breiter Quellenbasis aufgestellte Grundlagenforschung. Zudem ist ein nicht geringer Teil der zerstreuten Akten der Kirche in aller Regel nicht aufgearbeitet und verzeichnet.“ (S. 24)


Offene Fragen

Mit vielfältigen historisch-kritischen Methoden – das hat die Publikation von Krauss gezeigt – lässt sich ein neues und nachvollziehbares Bild von der Neuapostolischen Kirche in der NS-Diktatur zeichnen. Die offenen Fragen bzgl. dieses Ansatzes legt Krauss selbst offen (s.o.).

Zahlreiche kritische Autoren wählen aber nicht in erster Linie einen historisch-kritischen Ansatz, sondern argumentieren systemisch. So schreibt R. Stiegelmeyr:

„[…] primär lagen die treibenden Kräfte der Anbiederung und Übernahme des jeweiligen zeitgeistg-politischen Denkens in der eben nicht zufälligen Gleichartigkeit des Denkens – egal ob in der Nazi- oder der DDR-Diktatur. Diese Gleichartigkeit des Denkens […] bestand im archaisch-patriarchalischen Gedankengut der NAK […]“


Quellen