Neuapostolisches Schisma 1921
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Das Neuapostolische Schisma 1921 bezeichnet eine im Jahr 1921 vollzogene Kirchenspaltung der Neuapostolischen Gemeinde, im speziellen im damaligen Kirchenbezirk Leipzig unter der Führung des Apostels Carl August Brückner. Dieses Ereignis ist die größte Kirchenspaltung unter dem damaligen Leiter Stammapostel Hermann Niehaus und betraf rund 6.000 Mitglieder.
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
Apostel C.A. Brückner
Carl August Brückner wurde am 7. März 1872 in Mylau als Sohn eines Webers geboren. Er machte eine kaufmännische Ausbildung und arbeitete zuletzt bei einem Rechtsanwalt. Er war von Haus aus lutherisch, trat aber 1895 zur apostolischen Bewegung über, die damals noch nicht als „neuapostolisch“ bezeichnet wurde. Aufgenommen und versiegelt wurde er von Apostel Friedrich Krebs. Ab 1897 leitete er die Gemeinde Leipzig im Ältestenamt, 1901 wurde er zum Bischof ordiniert. Zu dieser Zeit war es noch schwierig für eine nicht evangelische oder katholische Gemeinschaft frei Gottesdienste zu halten. In Sachsen konnte diese nur unter polizeilicher Aufsicht durchgeführt werden. Brückner war es zu verdanken, so ist es Stand der Forschung, dass diese Bestimmung 1902 aufgehoben wurde. Stammapostel Hermann Niehaus, noch jung im Amt des neuapostolischen Hauptleiters und Stammapostels, ordinierte ihn schließlich 1905 ins Apostelamt. Ab 1909 war er zudem für die Publikation Neuapostolische Rundschau zuständig, eine Zeitschrift für in- und ausländische neuapostolische Gemeinden.
Verhältnis Brückner und Niehaus
Zwischen Stammapostel Hermann Niehaus und Apostel Carl August Brückner herrschte wohl lange Zeit ein gutes Verhältnis.[2] Jahrelang sollen die beiden gemeinsam durch die Kirchenbezirke gereist sein. Niehaus soll ihn sozusagen als rechte Hand verwendet haben. Es ist derzeit noch nicht erforscht, wie dieses Verhältnis genau aussah.
Aus einem Rundschreiben vom Februar 1919 geht allerdings hervor, dass Brückner so eine Art Geschäftsführer-Funktion gehabt haben könnte. Er teilt mit: „Nachdem der Krieg vorüber ist und die meisten Vorsteher wieder auf ihren Platz heimgekehrt sind, müssen wir nun auch an die Arbeiten denken, die durch den Krieg im Jahre 1914 ins Stocken geraten sind. Dazu gehört zunächst die Anlegung des damals bereits vorgelegten neuen Kirchenbuches, und der dazu gehörigen Karthothek, nämlich der Ausschreibung der Personalblätter.“[3] Er erklärt eine neue Vorgehensweise und gibt Anweisungen zur Durchführung.
Jedenfalls dürfte er vor diesem Hintergrund und seiner Verlegerfunktion unter besonderer Beobachtung der weiteren Apostel gestanden haben.
Die Neuapostolische Rundschau und der Fall Mütschele
Im März 1919 kritisiert ihn der niederländische Apostel van Oosbree indirekt für die publizierten Inhalte in der Neuapostolischen Rundschau: „Wenn ich den Berichten in den Tagesblättern glauben soll, so müssen die allgemeinen Zustände in Deutschland noch besorgniserregender sein als während des Krieges, auch was die Ernährung betrifft. (…) Auch der Inhalt der Rundschau muß nach meiner gemachten Erfahrung bezwecken, die Ermüdeten aufzurichten und die Betrübten zu trösten, was auch nicht durch lange Auseinandersetzungen von biblischen Geschichten geschehen kann, (so interessant und kunstvoll dies auch sein mag); denn es werden zu viel der Worte gemacht und zu wenig praktischer Gebrauch im Leben. Zu leicht kann dadurch auch eine Nichtbefriedigung zustande kommen.“[4]
Oosbree, der viel später für eine liberale Haltung stehen wird, scheint in dieser Zeit interessanterweise dem endzeitlichen Gedanken nahezustehen. Am 22. Juni 1919 predigt der niederländische Apostel in Amsterdam über die trennscharfe Bibelstelle Johannes 4,1-6 u.a.: „Die Apostolischen sollen besonders in der Gegenwart, in dieser letzten Zeit, in der wir uns befinden (denn daß wir uns in der letzten Zeit befinden, dessen könnt ihr versichert sein) mehr und mehr in der wahrhaftigen Erkenntnis des empfangenen ‚Lebens‘ zunehmen, weil sie als ‚Heilande‘, die auf dem Berge Zion werden geboren, gebraucht werden sollen.“[5]
In Stuttgart brach 1919 ein Konflikt zwischen dem Apostelhelfer Paulus und Bischof Müller einerseits und Apostel Bischoff andererseits aus, der eine eigene Darstellung wert wäre. Mit Rundschreiben vom 25. August 1919 informiert Bischoff die Amtsträger in seinem Apostelbezirk: „Wie Ihr lieben Brüder wohl wisset, ist ja Herr Paulus und Müller in Stuttgart am 3. August von mir gegangen. Ein weiteres Zusammenarbeiten war unmöglich geworden und so habe ich nach Abrahamsweise die Scheidung bewirkt, denn um Glaubensbegriffe streite ich nicht. (…) Die Gottesdienste finden in Stuttgart wie seither in der Rosenbergstraße statt. Herr Paulus und Müller sind keine Vorsteher mehr. (…) In der Olgastraße ist von uns vorerst kein Gottesdienst mehr.“[6]
Nach dem 1. Weltkrieg begann der Evangelist Karl Wilhelm Mütschele als Redakteur bei der Neuapostolischen Rundschau zu arbeiten. Mütschele stammte eigentlich aus Stuttgart und hatte dort 1905 die neuapostolische Gemeinde Bad Cannstadt mitgegründet, die er von 1907 bis 1908 als Vorsteher leitete. – Was ihn nach Leipzig verschlug, ist noch unerforscht. Fakt ist jedoch, dass er Paulus/Müller nahestand und deren Gedanken auch nach Leipzig brachte. Es entsteht ein Konflikt zwischen Brückner und Mütschele.
In einem Circular-Brief vom 22. August 1919 wendet sich der Apostel gegen einen Artikel des Evangelisten mit dem Titel „Naturwissenschaft und christlicher Glaube“. – „Aus demselben spricht der Geist der schwarzen Ordodoxie, die einst mit der Bibel in der Hand den Herrn, in dem die Fülle aller Weisheit Gottes lag, töteten. (…) Ich kann mich dem Eindruck nicht verschliessen, dass er eine persönliche Spitze gegen meine Ausführungen in der Widerlegung, die ich zur Zeit notwendigerweise einer gegen mich gerichteten Schrift des l. Ev. Mütschele dargeboten habe, bedeuten soll.“ Trotzdieser Feststellung setzt sich Brückner allerdings in seinem Circular auf mehreren Seiten auf intellektueller Ebene mit dem Artikel auseinander. An keiner Stelle droht er mit einem Rauswurf des Redakteurs.
Diese Art der Auseinandersetzung wird möglicherweise außerhalb seines Bezirkes als zögerliche Handlung gegenüber dem Abweichler empfunden. Stammapostel Niehaus soll nach Brückners eigener Darstellung auf eine Absetzung Mütscheles gedrängt haben. [7] Auch zwischen dem Leipziger Bischof Werner und Mütschele herrschte ein angespanntes Verhältnis, das sich offenbar am 5. November 1919 entlud und so einen Tag später nun doch zur Amtsenthebung, Absetzung als Redakteur und Entzug der Mitgliedschaft Mütscheles durch Brückner führte.[8]
Auffällig ist eine Ergebenheitsadresse Brückners an den Stammapostel im Oktober 1919. „… Ich habe dagegen mein Leben lang das für ausschlaggebend gehalten, was mir mein Apostel lehrte, früher Stammapostel Krebs, heute Stammapostel Niehaus, und mein Haus steht fest und wird solange auch fest bleiben, es wird keinen Fall tun, solange ich von diesem Felsengrund nicht abweiche. (…) Diesen Felsengeist Christi in meinem Apostel (Niehaus) werde ich auch nicht verlassen und ich versehe mich der guten Zuversicht: keiner der Amtsbrüder in meinem Bezirk auch nicht, damit unser Haus fest stehe in Zeit und Ewigkeit.“ Offenbar gibt es Gerüchte, dass Brückner nicht mehr auf der Linie des Stammapostel sei, denn er schreibt weiter: „Darum kann ich nur warnen, böse Geschwätze verderben gute Sitten.“[9]
Es ist ein Indiz dafür, dass er unter den Mitapostel und den neuapostolischen Gläubigen angeschlagen ist und sich nun deshalb demonstrativ hinter Stammapostel Niehaus stellt. Einen Brief an Stammapostel Niehaus in dieser Zeit unterzeichnet er mit „Ihr ergebenster dankbarer Sohn“. Darin verteidigt er sich gegen zahlreiche Vorwürfe, die Dritte gegen ihn erhoben. Auch machen inzwischen viele Gerüchte über ihn die Runde, worauf er mit einer Erklärung vom 14. November 1919 reagiert, in der er 14 Punkte thematisiert. Es geht um Geld und Status: „1. Teuflische Lüge ist es, wenn gesagt wird, in meinem Bezirk sei für M 7000,- Wein verkauft worden, wo in Wirklichkeit absolut keiner verkauft worden ist. 2. Teuflische Lüge ist es, wenn gesagt wird, die Hostien seien mit Himbeersaft getränkt worden in meinem Bezirk. (…) 3. Teuflische Lüge ist es, wenn gesagt wird, ich hätte gesagt, ich sei Christus. (…) 6. Teuflische Lüge ist es, wenn gesagt wird, ich hätte meinem Sohne eine Ausstattung von M 15000,- gekauft. Ich habe meinem Sohne keinen einzigen Pfennig für seine Ausstattung gegeben können, weil ich kein Barvermögen habe. (…) 9. Ueble böswillige Nachrede ist es, wenn gesagt wird, ich fahre Auto, wo ich doch nur äusserst selten mal vom Bahnhof zu einem Dienst gefahren bin, meist, wenn ich zu spät ankam und es um der Gemeinde wegen nötig war. In den meisten Fällen laufe ich, weil ich die körperliche Bewegung liebe.“
Festgehalten werden kann an dieser Stelle: Brückner ist nach diesem November massiv geschwächt. Die Zeiten haben sich geändert und ein anderer Apostel wirbt um die Gunst des Stammapostels, der Frankfurter Johann Gottfried Bischoff. – Bischoff ist fast gleich alt, hat aber einen katholischen Hintergrund und arbeitete beruflich zuletzt als kleiner Zigarrenhändler bis er in den Dienst der Kirche trat. Gegensätzlicher könnte das Verhältnis nicht sein.
Es ist der Apostelbezirk des Frankfurters, in dem der Paulus/Müller/Mütschele-Konflikt tobt. Aber Bischoff ist keiner, der sich einer solchen Auseinandersetzung auf intellektueller Ebene stellt. Er wählt einen anderen Weg: „Der Herr Jesu hat einst von einer Zeit gesprochen, die sehr gefährlich werden würde, wo auch die Auserwählten in Gefahr seien (…). Wir sehen und erkennen, daß diese gefahrvolle Zeit, wo unsere Seligkeit in Frage gestellt ist, begonnen hat. Wer Geistesempfindungen hat, um zu erkennen, wo der Wind des Geistes der Zeit herkommt, wer offene Augen hat zu sehen und Ohren hat zu hören, der erkennt, es ist eine ernste Zeit, voller Gefahren und Versuchungen für diejenigen, die das Panier des Glaubens hochhalten und Gott in seinen Taten der gegenwärtigen Zeit erkennen und folgen. (…) Die Zeit ist da, wo alle Geister offenbar werden und sich dann zu ihren Gleichgesinnten sammeln, damit offenbar wird, wessen Geistes Kinder sie sind. Wer vom Geiste Christi erfüllt ist, der bleibt bei uns, denn wir haben Christi Sinn. Die Zeit ist gekommen, in der die Geister ihre Maske fallen lassen und treten hervor, als das was sie sind.“ [10]
Es ist ein bekanntes Rezept: Eine Bedrohung wird beschworen um den Zusammenhalt zu bewirken. Die Notwendigkeit scheint gegeben, wenn stimmt, was Bischoff am 1. Dezember 1919 schreibt: „Gegenwärtig werden an Amtsbrüder und Glieder der Neuapostolischen Gemeinden von Herrn Paulus, Müller und Mütschele Aufklärungsschriften versand, um Ämter und Glieder in ihrem Glaubensleben irre zu leiten.“[11]
Im selben Rundschreiben gibt er zudem einen aufschlussreichen Brief des Frankfurter Ältesten Georg Schall wieder, den dieser am 24. November 1919 offenbar im Nachklang zu einer erlebten Predigt Bischoffs verfasste: „Anschließend an ihre Wirksamkeit vom Mittwoch las ich gestern früh mehrere Verse aus Hes. 33 vor. Dortselbst wird von der Notwendigkeit eines geschickten Mannes unter dem Volke gesprochen, welcher zu einer Zeit, ehe das Schwert durchs Land geht, die warnende Drommete bläßt. (…) Wenn wir auch nicht Tag und Stunde angeben können, dann kann es aber doch sein, daß wir nahe vor dem Kommen Jesu stehen, aber auch mit seinem Ableben muß ein jeder rechnen, da bricht dann für die Leichtfertigen endlich aber plötzlich der Tag des Gerichtes, des Schwertes herein. (…) Im weiteren Sinne ist mit Schwert zu verstehen, wenn Strömungen durch die Lande gehen, die beabsichtigen, unser Glaubensleben zu schädigen, die Kinder des Lichtes mit Irrtümern zu beschleichen, um das gesunde Glaubensleben zu verschneiden. (…) Wer diese Stimme achtet, der Drommete Hall höret, der wird leben. (…) Wer ist neutestamentlich der Mann, der die Drommete blasen soll? (…) Also ist der Mann, der von Gott in die neutestamentliche Zeitperiode gesetzt ist, Jesus Christus Gottes Sohn (…) Ich sehe in meinem Apostel zunächst den Mann der Gegenwart, auf dessen Stimme ich höre, und wenn ich mich dadurch warnen und zurechtbringen lasse, ich vor dem Verderben bewahrt werde. (…) Die Erlösung, bezw. deren Notwendigkeit, von der Sie lieber Apostel in den letzten [Gottes-]Diensten gesprochen, ist bei vielen, mit denen ich inzwischen näher in Berührung kam, tief in die Seele gedrungen.“ [12]
Der so gehuldigte Apostel Bischoff veröffentlich schließlich am 25. April 1920 einen Gedankengang, an dem sich die Geister scheiden werden: „Die Apostolischen der heutigen Zeit bieten sich als ungesäuerte Brote der Lauterkeit und Wahrheit an. Im Siegerlande sahen nichtapostolische Bergleute in einem Regenborgen die Worte: Siehe, ich komme bald! Eine Schwester sah und las dasselbe. Wir dürfen also nicht zaudern. (…) Die Zeit der Offenbarung und des Offenbarmachens ist gekommen. Was uns zu verstehen gegeben wird, war bis dahin noch verborgen. Profeten [Schreibweise im Original, Anm. MK] und andere, sogar Engel begehrten die Geheimnisse zu sehen, aber es wurde ihnen nicht gewährt. Jetzt ist die Zeit gekommen. (…) Enge mit einander verbunden, gehen wir ringend und bittend der Zukunft entgegen.“[13]
Diesem Brief folgt zwei Wochen später ein weiterer in ähnlichem Duktus, in dem der Frankfurter auch einen Seitenhieb auf wissenschaftliche Denkweise austeilt: „Die Tage eilen hin, die Gottesverheißungen erfüllen sich mehr und mehr, denn Gott hat Interesse daran, sein Erlösungswerk zu vollenden. Diese Arbeit geschieht aber nicht durch akademische Weisheit und gelehrte Worte des menschlichen Geistes, sondern durch meinen Geist soll es geschehen, spricht der Herr. Das Sammeln ist ein Zeichen der Ernte, und wo dies geschieht, da wissen wir, wie weit wir gekommen sind. Daß wir heute in dieser Zeit stehen, muß jeder Unbefangene zugeben (…).“[14]
Es liegt nahe, dass sich Bischoff hier gezielt gegen den Dresdner Apostel wendet und sich selbst als Nachfolger für Niehaus empfiehlt. Denn inzwischen gibt es Gerüchte, Frankfurt – also Bischoff – wolle „zum Sitz des zukünftigen Stammapostels“ erhoben werden und „die Frankfurter“ würden „dieses Ziel auch in Quelle“ – also bei Niehaus – „durchsetzen“.[15] Brückner, der zuvor lange als Nachfolger Niehaus‘ gehandelt wurde[16], ist offenkundig zunehmend in die Defensive geraten.
Am 10. Oktober soll schließlich eine Apostelversammlung stattfinden, auf der die Nachfolgerfrage für Niehaus geklärt werden soll. Wohl erst kurz vor dieser Veranstaltung wurde auch Brückner nach eigener Darstellung über die Absicht dieser Versammlung informiert und gebet, einen Nachfolger vorzuschlagen. Er nannte sodann den Apostel van Oosbree. Brückners Mitapostel Ecke wurde gar nicht um einen Vorschlag gebeten.[17] Im Zusammenhang mit seiner Antwort mit dem Vorschlag van Oosbree distanziert sich Brückner deutlich von Bischoff, indem er Niehaus mitteilt: „wenn die Wahl auf Frankfurt fiele, würde ich mir die Freiheit meiner Handlungen vorbehalten müssen. Warum? Weil die Richtung, die Frankfurt zur Schau trägt, in meinem ganzen Brüderkreise nicht zusagt (…)“[18]
Folgt man einer rückblickenden Darstellung von Brückner über das Ereignis vom 10. Oktober 1920 in Bielefeld, dann war er zu diesem Zeitpunkt schon an den Rand des Apostelkollegiums gedrängt: „Als ich im Hotel zur Post ankam, habe ich am Tische, wo Ap. Bischoff mit seinem Brüdern saß, keinen Platz gefunden. Alles war besetzt. Da mir auch niemand Gelegenheit bot, habe ich mich dann bescheiden an einen kleinen Tisch gesetzt mit dem Begleiter, und diesen Platz habe ich selbstverständlich meistens auch beibehalten, bis auf wenige Ausnahmen. In der Versammlung sowohl, als auch in den ganzen übrigen Stunden des Beisammenseins habe ich mich müssen äußerst zurückhalten, um so mehr als ich merkte, daß sämtliche Apostel wie mit einem Zauberschlage gegen mich eingenommen waren im stillen. Es mußte also heimlich gegen mich viel gearbeitet worden sein. Auch in der Apostelversammlung habe ich mich ganz stille verhalten, weil Sie mir vorher geschrieben hatten, daß Sie fürchteten, die Versammlung würde zu einer Streitversammlung werden, und außerdem hatten Sie mich brieflich in härtesten Worten der persönlichen Rechthaberei bezichtigt, und im Gottesdienst selbst ließen Sie sich zu dem leidenschaftlichen Ausdruck hinreißen – die verfluchte Rechthaberei – und außerdem hatten Sie noch erregt und mit Pathos in der Predigt hervorgehoben, daß Sie rücksichtslos vorgehen müßten, was doch alles auf meine Person deutete. Ich war durchgeprügelt wie ein dummer Junge (…)“[19]
Bei dieser Versammlung wird Apostel Bischoff zum Stammapostelhelfer bestimmt. Später beschwert Brückner sich beim Stammapostel: „Warum ist denn der Ap. Brückner zum Scheine nur, pro forma, in allerletzter Minute, wo die Sache längst fest beschlossen war, gefragt worden und der Ap. Ecke gar nicht? (…) Jetzt wieder sollen Träume und Gesichte als Decke dienen. (…) Und warum werden dann diese angeblichen Zeugnisse nicht vorher bei den Aposteln zirkulieren lassen? Warum gibt es da nicht eine freie Aussprache darüber, wie es eigentlich die Satzung verlangt? Warum werden heute noch den Aposteln diese vermeintlichen unfehlbaren Zeugnisse vorenthalten? Warum das Spielen mit verdeckten Karten? Und wer bürgt mir dafür, daß die Visionen und Träume nicht falsch oder eingeimpft sind?“[20]
Gleichwohl tritt Brückner auch nach dem Oktober 1920 gegenüber Niehaus recht selbstbewusst auf und wendet sich entschieden gegen solche Gedanken, wie sie sein Amtskollege Bischoff spätestens seit April zu verbreiten begann: „Mit Träumen, Gesichten, Zeichen, Wundern menschlich frömmelnder pharisäischer Art kann das Leben aus Gott nicht gespeist, das Kind von der Maria nicht ernährt und großgezogen werden. Das ist alles nur Kindermilch für die ersten Lebensmonate. Es muß Qualitätsspeise sein höher entwickelter Gottes- und Christusreligionim rein apostolischen Geistessinne. Denn mit augenblicklicher Effekthascherei und Sensationsparadestücken phantastischer Schönmalereien hat Jesus auch nicht gearbeitet. (…) Nur die stete zielsichere ruhige, alles schwärmerische vermeidende reine Apostellehre tut dem Volke not, unter weiser Pflege der Geistesgaben und Ämter ohne fremde Hefenbeimischung, das kann eine gesunde geistige Bereicherung für die apostolische Bevölkerung herbeiführen. Jedes Karusselfahren, im Kreise herum, auf geistigem Gebiete tut der Sache Abbruch, nachdem die Apostolische Sendungsgemeinde den Kinderjahren und damit der religiösen Kinderstube entwachsen ist, und nunmehr ihre gottgegebenen Sehnen und Muskeln sich recken und strecken wollen und sollen, um hinaus zu treten in Freie und ihre Sendungsmission anzutreten, gleichwie Christus mit 30 Jahren hinaustrat und sein Lehramt antrat. Die Elementargrundsätze sind abzulösen durch eine Weitersteckung der Ziele und Lehrfächer in religiöser Hinsicht, Methodismus, Katholizismus, Spiritismus, deren Dasein als fremde Schmarotzerpflanzen ich bis in die neuste Zeit leider in so vielen Zirkularen und Berichten verspüren konnte, müssen aus den apostolischen Lehrtätigkeiten und religiösen Gebräuchen und Grundsätzen verschwinden, weil sie Fremdkörper sind, die das reine apostolische Glaubensleben in seiner Entwicklung stören und an dessen gesunden Lebensmark nagen, wodurch eine geistige Blutarmut hervorgerufen wird, die sich bis zur Blutleere steigern kann.“[21]
Offenbar im Hinblick auf die schon in den letzten Jahren der Amtszeit von Apostel Friedrich Wilhelm Schwarz, der 1895 verstarb, vorhandene Endzeithoffnung [22], fährt Brückner fort: „Wenn ich zurückdenke an das vergangene Jahr und das vorhergegangene von 1919, dann kann ich mich einer stillen beängstigenden Wehmut nicht erwehren, habe ich doch zum allermindesten den auf jeden Fall berechtigten Eindruck, daß Schwarz in der Zukunft Trumpf werden soll, womit das Schicksal der apostolischen Kirche im Prinzip besiegelt wäre.“ [23]
In einem weiteren Brief wenige Tage später reagiert Brückner auf eine Antwort des Stammapostels und wird dabei noch deutlich. Explizit erwähnt er dabei die von Bischoff verbreitete Siegerland-Erscheinung: „Nun machen Sie mir zum Vorwurf, daß ich die Zukunft des Herrn verleugne. Ich leugne die Zukunft des Herrn nicht, aber ich forciere sie nicht krankhaft. Das ist nun mal so ein Steckenpferd, das jetzt eine Zeitlang geritten wird, bis es wieder abgeritten ist. Man sei doch nüchtern. Daß ich es bin, wird mir verübelt, ich kann aber das Volk nicht in einer Sache täuschen, worüber ich selbst keine Gewißheit habe. Es kommt ganz darauf an, wie man sich die Zukunft des Herrn denkt, jedenfalls wird sie ganz anders ausfallen, als sie von den Siegerländer Bergmanns Wundergesichten und von vielen derartigen von unkontrollierbarer Phantasie überhitzt gemalten Bildern hingestellt wird. Wir für unsre Person in Sachsen sehen viel zu hoch zum Herrn der Kirche auf, als daß wir die Zukunft von ihm zum sensationellen Zugstück machen.“[24]
Offen und direkt kritisiert er den Stammapostel: „Sie, mein lieber Stammapostel, sind in den letzten Zeiten unverkennbar immer mehr in die spiritistische Richtung geglitten. Ich bitte mir die Freiheit meiner Äußerung nicht übel zu deuten. (…) Ich aber und die Brüder hier, wir wollen rein apostolisch bleiben und diese Seitenrichtung nicht mit übernehmen. Wir müssen Sie bitten, uns von diesen Richtungen zu dispensieren und zu verschonen. (…) Wie trügerisch ist der Grund, wenn in einer Kirche auf äußerliche Zeichen und Wunder, Träume, Visionen gebaut wird, was für gebrechliche Stützen sind das. Sehen wir uns nur die großen Fehlschläge in den Kriegsgeschichten des entschlafenen Pr. Sch.[25] an, wieviel Nieten, Tausende haben dadurch den Glauben an die unfehlbare Autorität der neuapostolischen Lehre in sich wanken sehen, und sind zu Schaden gekommen, wenn sie es auch aus Pietät nicht aussprechen.“[26]
In einem Brief vom 13. Januar 1921 soll Stammapostel Niehaus Brückner noch die „Abramsgesinnung“ angeboten haben: „Gehst du zur Rechten, geh ich zur Linken …“ – eine friedliche Koexistenz. Doch damit war es offenbar nicht weit her oder es war nicht zu steuern. Die Mitglieder wurden teilweise von außerhalb des Apostelbezirkes aufgehetzt oder verlangten einfach ihrerseits Klarheit. So kam es in der Gemeinde Leipzig Ende Februar zu einem dramatischen Bruch in zwei Lager.
Am 17. April 1921 unterzeichnete Stammapostel Hermann Niehaus und acht weitere Apostel schließlich die Amtsenthebung des Carl August Brückner. Schon einen Monat zuvor hatte Niehaus Brückner in einem Brief nur noch mit „Herr Brückner!“ angeredet.[27] Es war die Antwort auf eine weitere Bitte des in Ungnade gefallenen Bezirksapostels um ein klärendes Gespräch vom 10. März. 96 Jahre hat die neuapostolische Seite gebraucht, diese ausgestreckte Hand zu ergreifen, wenn nun am 11. März 2017 einer Versöhnung stattfindet.
Johann Gottfried Bischoff indessen führte den „Wiederkunfst-Hype“ zunächst fort[28], bis er Mitte der 1920er-Jahre wieder abflaute um dann schließlich unter ihm im Nachhall des 2. Weltkriegs in geradezu absurder Perfektion wieder aufzuerstehen. – Wieder ging es darum einen ungewollten Nachfolger im Stammapostelamt auszustechen. Noch mehr Leid war die Folge. Aber diese Geschichte wurde hier schon ausführlich erzählt.
Referenzen
[2] Vgl. Fußnote 16; es gibt allerdings eine schwierig einzuordnende autobiografische Darstellung Niehaus‘, in der Niehaus behauptet, Brückner sei ihm nachgereist. [vgl. „Eine Lebensbeschreibung und Anfang von Gottes Werk hier“, verm. Niehaus, o.J. (1928?) o.O.]
[3] Bischoff, J.G.: Rundbrief C.B. Nr. 8, Frankfurt a.M. 8.2.1919, S. 3f
[4] Oosbree, H.v.: Brief an Stammapostel Niehaus. In: Bischoff, J.G.: Rundbrief C.B. Nr. 14, Frankfurt a.M. 17.3.1919, S. 3f
[5] In: Bischoff, J.G.: Rundbrief C.B. Nr. 26, Frankfurt a.M. 11.8.1919
[6] Bischoff, J.G.: Rundbrief C.B. Nr. 27, Frankfurt a.M. 25.8.1919
[7] Vgl. Brückner, C.A. in: Bischoff, J.G.: Rundbrief vom 14.11.1919, Frankfurt a.M.
[8] Vgl. Mütschele, K.W.: Brief an „Meine lieben Brüder und Schwestern“, Leipzig 10.11.1919
[9] In: Bischoff, J.G.: Rundschreiben C.B. Nr. 31, Frankfurt a.M. 27.10.1919
[10] Bischoff, J.G.: Rundschreiben C.B. Nr. 34, Frankfurt a.M. 19.11.1919
[11] Bischoff, J.G.: Rundschreiben, Frankfurt a.M. 1.12.1919
[12] ebd.
[13] Bischoff, J.G.: Rundschreiben vom 25.04.1920, Frankfurt a.M.
[14] Bischoff, J.G.: Rundschreiben vom 2.05.1920, Frankfurt a.M.
[15] Brückner, C.A.: Brief an Stammapostel Niehaus, 8.01.1921. In: Witlof: Durch Nacht zum Licht, Dresden 1921, S. 31
[16] „Sie werden doch nicht abstreitet, daß Sie mich 15 Jahre lang in allen Bezirken als Ihren Helfer gebraucht haben bei den verschiedensten Gelegenheiten. Ich wurde dahin und dorthin gesandt, und war nach der brieflichen Aussage des Ap. Steinweg ‚der hochbegabte und wertgeschätzte Streiter und Waffenträger des Stammapostels‘. Das aber war ein öffentliches Geheimnis, und dann ist es ganz naturgemäß, daß sich an solche Entwickelung auch im ganzen Volke und besonders in Ämterkreisen ganz bestimmte Gedanken knüpfen, knüpfen und knüpfen müssen.“ [Brückner, C.A.: Brief an Stammapostel Niehaus, 8.01.1921. In: Witlof: Durch Nacht zum Licht, Dresden 1921, S. 23]
[17] Brückner, C.A.: Brief an Stammapostel Niehaus, 8.01.1921. In: Witlof: Durch Nacht zum Licht, Dresden 1921, S. 31
[18] Brückner, C.A.: Brief an Stammapostel Niehaus, 8.01.1921. In: Witlof: Durch Nacht zum Licht, Dresden 1921, S. 31
[19] Brückner, C.A.: Brief an Stammapostel Niehaus, 8.01.1921. In: Witlof: Durch Nacht zum Licht, Dresden 1921, S. 22
[20] Brückner, C.A.: Brief an Stammapostel Niehaus, 8.01.1921. In: Witlof: Durch Nacht zum Licht, Dresden 1921, S. 31
[21] Brückner, C.A.: Brief an Stammapostel Niehaus, Silvester 1920. In: Witlof: Durch Nacht zum Licht, Dresden 1921, S. 6f
[22] vgl. Grönewegen: Nachwort. In: Schwarz, F.W.: Das Buch für unsre Zeit, Bd. II, 1872: „Er (Schwarz, Anm. gk) wurde im Jahr 1863 auf prophetischen Befehl des Herrn nach Amsterdam gesandt. Kurz zuvor und bei seiner Aussendung aus der Gemeinde zu Hamburg haben merkwürdige Weissagungen und Gesichte durch und bei vielen Personen stattgefunden, so auch, dass er seine Laufbahn nicht werde vollendet haben, bevor die Zukunft des Herrn habe stattgefunden. (...) Und ist die dem Apostel F.W. Schwarz gegebene Verheißung, dass er den Tag der Erscheinung Christi erleben solle, wahrhaftig aus Gott, dann kann in Rücksicht auf sein Alter die Erscheinung des Herrn innerhalb 10-25 Jahre höchstens und also noch in diesem Jahrhundert erwartet werden.“
[23] Ebd.
[24] Brückner, C.A.: Brief an Stammapostel Niehaus, 8.01.1921. In: Witlof: Durch Nacht zum Licht, Dresden 1921, S. 37
[25] Gemein ist wohl der Prophet Ernst Schärtlein, der 4. November 1920 in Bielefeld verstarb und „Hausprophet“ Niehaus‘ war.
[26] Brückner, C.A.: Brief an Stammapostel Niehaus, 8.01.1921. In: Witlof: Durch Nacht zum Licht, Dresden 1921, S. 33
[27] Obst, H.: Apostel und Propheten der Neuzeit, S. 201
[28] In der WÄCHTERSTIMME AUS ZION heißt es in der Ausgabe vom 10. Juli 1921: „Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die Tage des Menschensohnes gekommen sind. Von Jesus ist hingewiesen, daß in den Tagen vor seinem Erscheinen wird sein Krieg und Kriegsgeschrei; ein Volk wird sich erheben über das andere und ein Königreich über das andere. Als Begleiterscheinungen werden sich einstellen teure Zeit, Pestilenz, Erdbeben hin und wieder. Empörungen und Kriege sind schon immer gewesen, solange Menschen auf der Erde leben und sich in Liebe oder Haß begegnen, aber niemals in dem Maße, wie der hinter uns liegende Weltkrieg. Auch lokalisierte Hungersnot finden wir geschichtlich zu verschiedenen Zeiten aufgezeichnet, aber nicht so wie heut, wo als Auswirkung der angerichteten Verheerung eine knappe und teure Zeit über den ganzen Erdkreis gekommen ist, der sich nur wenige entziehen können. Jesus hat auf diese Zeichen der Zeit mit dem Bemerken hingewiesen, daß alsdann nahe ist der Tag seiner Erscheinung.“ Sieben Tage später gibt diese Zeitschrift einen Gottesdienst von Stammapostel Niehaus wieder, in dem Johann Gottfried Bischoff predigt: „Daß wir in der Zeit sind, wo der Herr Eile hat, und mit Riesenschritten sein Werk der Vollendung entgegenführt, werden wir wohl erkannt haben.“ – Das selbe predigt er erneut am 27. Juni 1948 in Frankfurt-Südwest.